Der Begriff „toxische Männlichkeit“ ist mittlerweile zumindest im Westen weit verbreitet und wird ebenso unkritisch als Phänomen akzeptiert wie die „hegemoniale“ Männlichkeit (1), mit der sie oft gepaart wird. Die Basis für diese Konzepte ist typischerweise anekdotisch und konzentriert sich auf ausgewählte Ereignisse von männlicher Gewalt, Frauenfeindlichkeit, Homophobie, männliche Sexualverbrechen, Extremismus bis hin zu nicht gendern wollen. Eine solche pauschale Hypothese entspricht jedoch nicht den Standards der empirischen Wissenschaft und kann nicht nur durch internationale empirische Forschung widerlegt werden (2), sondern auch mit einer Vielzahl anderer Belege. Es ist zu beachten, dass der Begriff „toxisch“ in den Sozialwissenschaften auf keine andere allgemeine Kategorie von Menschen angewandt wird und wahrscheinlich zu Recht als diskriminierend angesehen würde, wenn er auf Frauen, Kinder, ältere Menschen, Buchstaben-Menschen, Behinderte oder andere ethnische oder religiöse Gruppen angewendet würde. Die Tatsache, dass die Verwendung dieses Begriffs in Bezug auf das männliche Geschlecht in der Gesellschaft toleriert wird und sogar in der formalen akademischen Literatur als brauchbare Theorie angesehen wird, spricht Bände über unsere wenig empathische Haltung gegenüber Männern und ist ein Hinweis auf eine geschlechtsspezifische Voreingenommenheit. Man könnte argumentieren, dass in diesen Einstellungen die wahre Giftigkeit liegt. Es gibt zwei mögliche Deutungsebenen für das Konzept der toxischen Männlichkeit. Die extremere Interpretation besagt, dass Männlichkeit global für alle, einschließlich der Männer selbst, toxisch geworden ist und eine vollständige Überarbeitung, insbesondere durch eine bessere Sozialisation und Erziehung von jungen Männern erfordert. Die schwächere Interpretation besagt, dass es sich nur um Extreme handelt, bei denen „Macho“- oder „hyper“-maskulines Verhalten toxisch wird, so dass nur ein Ende des männlichen Spektrums geheilt werden muss. Aber auch die schwächere Interpretation birgt die Implikation, dass eine Person umso toxischer wird, je maskuliner sie ist – und zwar allein aufgrund ihres Geschlechts und ohne dass ein anderer ursächlicher Faktor beteiligt ist.

  1. Die meisten männlichen Jugendlichen werden in erster Linie von Frauen sozialisiert. (90% der Alleinerziehenden, mehr als 80% von der Kita bis Grundschulbetreuung sind Frauen) (3,4) Wie kann es also sein, dass vermeintlich untoxische Einstellungen des geheiligten Geschlechts zur Übertragung toxischer Einstellungen auf das andere führen? Es gibt eindeutige Beweise dafür, dass die Abwesenheit des Vaters sich negativ auf die Entwicklung und die psychische Gesundheit von Kindern auswirkt (5,6).
  2. Die meisten Männer verhalten sich in Bezug auf Frauen eher risikofreudig und schützend als destruktiv (7). Die Rolle des Beschützers ist von Natur aus eher für Männer geeignet, was sich auch in vielen physiologischen Unterschieden zeigt, die darauf hindeuten, dass Männer besser an den Kampf angepasst sind als Frauen (8).
  3. Missbräuchliches und toxisches Verhalten von kriminellen Männern stellt eine extreme und atypische Stichprobe dar, die nicht repräsentativ für den Durchschnittsmann oder die gesamte männliche Bevölkerung angesehen werden kann. Es ist unwissenschaftlich vom Extrem auf die Norm zu verallgemeinern und daher ist es weitaus sinnvoller, toxisches und schädliches Verhalten dieser Männer nicht automatisch auf ihr Geschlecht zurückzuführen.
  4. Männlichkeit als Konzept oder Konstrukt, ob biologisch, sozial oder psychologisch, kann nicht vom gegenüber und in Wechselwirkung stehenden Konzept der Weiblichkeit getrennt werden. Gerade durch die gegenseitige Bedingtheit bei der sexuellen Selektion zeigt sich immer wieder, dass Frauen tendenziell Männer viel eher auswählen, wenn sie ihre Probleme unter den Tisch kehren (9), einen höheren sozioökonomischen Status haben (10, 11) – selbst in Kulturen ohne den bösen Kapitalismus (12, 13), Konfrontationsfähigkeit (14) und prosoziale Dominanz vorweisen (15, 16). Desweiteren lassen sich Frauen eher von Männern scheiden, wenn diese nicht die Hauptverdiener sind (17, 18) oder heiraten diese erst gar nicht im Vorhinein (19). Von der weiblichen Anziehung gegenüber Straftätern (20, 21) und antisozialen Persönlichkeitsstörungen wie Narzissmus mal ganz zu schweigen (22, 23).
  5. Auch Frauen zeigen in persönlichen und häuslichen Beziehungen ein hohes Maß an Gewalt und Aggression (24, 25). Es wäre daher schwierig, anhand dieser Belege zu argumentieren, dass Toxizität, gemessen an gewalttätigem Verhalten nur für Männlichkeit und nicht auch für Weiblichkeit gilt. Zudem werden hierbei die von Frauen eingesetzten Formen indirekten Aggression wie Rufmord und Provokation (26, 27) oftmals völlig ignoriert oder pauschal als „Victimblaming“ abgetan.
  6. Männlichkeit kann nicht gleichzeitig toxisch für alle sein (einschließlich der Männer selbst) und gleichzeitig für Männer privilegierend sein – das ist eindeutig ein Selbstwiderspruch.
  7. Männliche Täter, die sexuelle und körperliche Gewalt oder Missbrauch ausüben, haben in der Regel selbst eine Vorgeschichte von Missbrauch, Trauma oder Vernachlässigung in ihrer eigenen frühen Biografie und unterscheiden sich deutlich von der allgemeinen männlichen Bevölkerung, die keine solche Vorgeschichte haben und andere nicht missbrauchen (28). Dies deutet darauf hin, dass die Toxizität in der Geschichte einzelner Männer liegt und nicht kollektiv in ihrem Geschlecht.
  8. Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, weisen häufig unterschiedliche antisoziale Persönlichkeitsstörungen auf, die mit einer bedeutenden Geschichte von frühkindlichem Missbrauch und einer gestörten mütterlichen Bindung zusammenhängen. In einer aktuellen Studie wurden 52% der Männer aus einem Hochsicherheitsgefängnis, die schwere Straftaten gegen Frauen begangen, selbst in der Kindheit von Frauen sexuell missbraucht, die unabhängig von Männern handelten (29).
  9. Während Dünnbrettbohrer wie Kimmell (30) versucht haben, den extremen Terrorismus mit hypothetischen toxischen Eigenschaften des männlichen Geschlechts in Verbindung zu bringen, zeigt Hudson (31), dass Frauen schon immer eine wichtige Rolle bei terroristischen Aktivitäten gespielt haben, die zwischen ein Drittel bis zur Hälfte der Mitglieder von Terrorgruppen auf der ganzen Welt ausmachen.
  10. Das Konzept der Toxizität verwendet eine starke biologische Metapher, welche die Vorstellung einer Substanz vermittelt, die giftig und gesundheitsschädlich für einen Organismus ist. Angesichts der Tatsache, dass Männlichkeit ein Attribut ist, das bei mindestens der Hälfte der menschlichen Bevölkerung zu finden ist, sagt diese Theorie voraus, dass Pathologie als Norm vorliegt, die ein hohes Maß an Toxizität, Krankheit und Schaden in menschlichen Gesellschaften mit sich bringt. Diese Vorhersagen stimmen jedoch nicht mit den tatsächlichen Beobachtungen menschlicher Beziehungen, des Familienlebens und des Gemeinschaftslebens überein, die zeigen, dass Männer, Frauen und Kinder in vielen Gesellschaften häufig fähig sind, gemeinsam gesund und glücklich zu sein. Toxisches Verhalten, ist eher die Ausnahme als die Regel. Die Hypothese der „toxischen Männlichkeit“ kann nicht vorhersagen, warum gute Geschlechter- und Familienbeziehungen möglich sein sollten, warum alle menschlichen Beziehungen, die Männlichkeit beinhalten, gut funktionieren sollten oder warum die Zufriedenheit von Intimpartnern so häufig ist, wie sie ist.


Angesichts der oben genannten Beweise ist es daher wissenschaftlich besser zu dem Schluss zu kommen, dass nicht die Männlichkeit an sich toxisch ist, sondern dass emotionale Schäden, Vernachlässigung, Entfremdung und Missbrauch bei einigen Jungen und Teenagern in ihrer Entwicklungsphase zu männlichen Formen antisozialen Verhaltensstörungen im späteren Leben beitragen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Geschlecht mit emotionalen Schäden interagiert. Dies würde erklären, warum sich geschädigte Männer anders verhalten als geschädigte Frauen, obwohl es mehr Ähnlichkeiten zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Gewalt in Paarbeziehungen (24, 25), Missbrauch von Kindern (29) und sogar im Bezug auf die Beteiligung am Terrorismus (31) gibt, als bisher angenommen wurde.

Am deutlichsten sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Sexualverhalten zu erkennen (Unterschiede bei der sexuellen Selektion, Soziosexualität und allgemeine Lust auf Sex). Zudem sind die meisten Männer im Gegensatz zu Frauen im Säuglingsalter primär an das Geschlecht gebunden, mit dem sie später eine sexuelle Bindung eingehen werden. Dadurch kann man vorhersagen, dass Männer, deren frühe emotionale Bindungen zu weiblichen Bezugspersonen schädlich waren, später in höherem Maße sexuelle Gewalt (einschließlich Vergewaltigung) gegen Frauen ausüben werden als umgekehrt. Auf dem Gebiet der Vergewaltigung und sexuellen Gewalt sind diese Unterschiede in den weltweiten Statistiken deutlich zu erkennen.

Die große Mehrheit der Männer kann jedoch nicht als sexuell gewalttätig eingestuft werden. Dies ist eine Tatsache, die die Schlussfolgerung unterstützt, dass sexuelle Gewalt tatsächlich nur bei einer bedeutenden Minderheit von Männern auftritt, deren Beziehungen zu Frauen bereits schwer beschädigt sind. Darüber hinaus sind die Raten der sexuellen Viktimisierung von Männern und Frauen durch Frauen deutlich höher als bisher angenommen (29, 32).

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